IV

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Später fiel ihm ein, daß er jetzt Keller hieß, Erich Keller. Wäh- rend er in der Stadt herumrannte, prägte er sich den Namen ein, murmelte ihn sich vor, lange und eindringlich: Erich Keller. Zwischendurch überlegte er auch, wie er an zweitausend Mark kommen konnte, sich diesen Namen endgültig zu kaufen, bis es soweit sein würde, daß er seinen eigenen wieder würde anneh- men können. In Wirklichkeit hieß er Schnitzler, Hans Schnitzler, die Postkarte damals war an Hans Schnitzler adressiert gewesen, aber bevor er erschossen werden sollte, hatte er Hungretz gehei- ßen, erschossen werden sollte er als Unteroffizier Hungretz; kurz davor hatte er sich ein paar Monate Wilke genannt, Hermann Wilke, Obergefreiter: fast dreiviertel Jahre hatte er eine winzige Urkundenfabrik mit sich herumgeschleppt: einen Dienststempel und einen Packen Formulare, die viel bedeuteten: Marken, soviel er brauchte. Namen, soviel er sich geben wollte: eine Urkunden- fabrik, mit der er eine halbe Kompanie Soldaten hätte illegal marschieren lassen können, eine imaginäre Privatarmee, die nach imaginären Zielen marschierte und dennoch von strammer Legalität gewesen wäre, weil der Dienststempel echt war; bevor er Wilke geheißen hatte, war er als Waldow durch die Gegend gefahren, davor Schnorr: er wählte die Namen, wie sie ihm ge- rade während des Schreibens einfielen, er schuf Existenzen die es nicht geben durfte und in Wirklichkeit nicht gab, die aber ein Scheinleben gewannen durch den Druck eines Stempels auf ein Papier, die Prägung eines Gummirundstücks auf ein grünge- streiftes Stück Papier verlieh ihnen Legitimität; und diese Vari- anten seiner selbst lebten in Listen und Büchern weiter, ohne je gelebt zu haben, in Übernachtungsbaracken und Markenausga- bestellen, an Suppenstationen und Bahnhofskinos. Sogar Socken und eine Pistole hatte er sich irgendwo auf einen Namen geholt, der ihm jetzt nicht mehr einfiel, eine dieser Varianten, geschaf-

fen durch ein Instrument, das so nichtig war, daß er kaum dar-

über hätte lachen können: ein auf Holz geleimtes Stück Gummi

mit ein paar erhabenen Ziffern, die eine Nummer bedeuteten, umkränzend einen Hoheitsadler, der in seinen Klauen ein winzi- ges Hakenkreuz hielt: das war alles, die ganze Herrlichkeit, und ein Fetzen Papier, der diese Hochstapelei des Nichts vervoll- ständigte… Er hatte viele Namen gehabt in dieser Zeit, die erst vor drei Tagen zu Ende gewesen war und ihm unendlich weit zurückzuliegen schien; er wußte sie nicht mehr alle. Erschossen werden sollte er als Hungretz, das fiel ihm wieder ein, als er durch die Stadt schlenderte und sich seinen augenblicklichen Namen einprägte: Keller, Erich Keller – einen Namen, der sehr teuer war zweitausend Mark…

Später kam er in Viertel, wo noch Häuser standen, bewohnte Häuser. Zwischen zwei nassen Aschehaufen, von denen gelbli- che Flüssigkeit sich auf den rissigen Asphalt verteilte, stand eine Frau mit schmutzigem blonden Haar, ein graues Gesicht mit toten Augen. »Brot«, rief sie ihm zu, »Brot.« Brot, dachte er und blieb stehen; er sah sie an. »Brot«. rief sie wieder – »Brotmar- ken.« Er fing an, in seiner Tasche nach Geld zu suchen – er fand noch sechs Mark, dreckige Scheine, die er ihr hinhielt. »Brot«, sagte er. Sie schüttelte den Kopf. »Zwanzig Mark zwei Pfund«, sagte sie. Er versuchte zu rechnen, während er sie anstarrte, aber es gelang ihm nicht. »Für fünf Mark«, sagte er, »ein halbes Pfund.« Sie zog ihre Hand aus der Manteltasche und fing an, in einem Klumpen schmutziger rötlicher Marken herumzusuchen. Er gab ihr fünf Mark und sah die Marken auf seiner Hand liegen, winzige Fetzen bedruckten Papiers. »Gibt es etwas drauf?« frag- te er leise. Sie riß ihre Augen empört auf und klapperte mit den Lidern wie eine Puppe. »Klar«, sagte sie, »es ist doch Frieden, weißt du es nicht.«

»Frieden«, sagte er, »seit wann?«

»Seit heute morgen«, sagte sie, »seit heute morgen ist Frie- den… der Krieg ist aus…«

»Ich weiß«, sagte er, »aus war er schon lange, aber Frieden?«

»Wir haben kapituliert, glaubst du es nicht?«

»Nein…«

Sie rief einen Amputierten, der wenige Schritte weiter auf ei-

nem Mauerstumpf saß und eine offene Packung Zigaretten vor sich hielt. Er kam herbeigehumpelt. »Er glaubt nicht, daß Frie- den ist«, rief sie. »Wo kommst du denn her?« Er schwieg.

»Doch, es stimmt, der Krieg ist aus, richtig aus. Wußtest du es nicht?«

»Nein«, sagte Hans, »wo kann ich Brot kaufen auf diese Mar- ken. Sind sie gut?«

»Ja«, sagte der Amputierte, »sie sind gut. Wir betrügen keinen

  • gleich die Ecke herum ist der Bäcker. Willst du Zigaretten?«

    »Nein, sie sind sicher zu teuer.«

    »Sechs Mark…«

    Er bekam wirklich Brot auf die Marken in einer Bäckerei um die Ecke, es wurde sorgfältig abgewogen, fünf Scheiben, und da die letzte, die die Frau auf die Waage warf, zu dick war, so daß der Zeiger der Waage auf zweihundertsiebzig Gramm schlug, schnitt sie eine Ecke ab und legte sie in einen besonderen Korb…

    Und er feierte den Beginn des Friedens auf einem Mülleimer sitzend, indem er vorsichtig und feierlich seine Brotscheiben aß und nachdenklich die Groschen zählte die er von der Bäckerin zurückbekommen hatte…

    Er hatte nicht gewußt, daß das Brot s o teuer war. Langsam grub er seine Hand in die Manteltasche, um das Zigarettenetui herauszuholen, und als er den zusammengeknüllten Briefum-

    schlag fand, zog er ihn heraus und las ihn noch einmal: Regina

    Unger, Märkische Straße 17…


    Die Trümmer, durch die er nun gehen mußte, waren anderer Art, mit dichtem Grün überwucherte Hügel, auf denen kleine Bäumchen wuchsen, dichtes buntes Unkraut kniehoch – sanfte kleine Hügel, zwischen denen die Straßen wie Hohlwege er- schienen, friedliche ländliche Hohlwege, von groben Holzma- sten gesäumt, die die Hochleitung der Straßenbahn trugen. und im Pflaster die blankgewetzten Schienenstränge. Er ging sehr lange in diesem Hohlweg, bis er jemand traf, der auf einem Stein

    hockte und unter einem gelblichen Pappeschild zu warten

    schien, das ein großes grünes H trug.

    Der Mann, der dort hockte, sah ihn müde an und legte unwill- kürlich schützend seine Hand auf einen zerschlissenen Sack, in dessen Löchern Kartoffeln sichtbar waren. »Hält hier die Bahn?«

    fragte Hans. »Ja«, sagte der Mann kurz und wandte ihm den

    Rücken zu. Hans setzte sich auf den Bordstein und erblickte sehr weit hinter diesen grünen Hügeln die Silhouetten ausgebrannter Häuser und die häßlichen Stümpfe zerstörter Kirchen, und plötz- lich fiel sein Blick auf einen merkwürdigen großen Metallring, der aus einem Hügel herausragte und seine Form bewahrt zu haben schien: das Metall war schwarzgefressen von den Flam- men, aber innerhalb der Rundung erkannte er unzerstört jenen stilisierten perversen Vogel, der einst als roter Hahn die Nacht erleuchtet hatte: die Lichtreklame einer Bar, die innerhalb eines großen Ringes einen Hahn gezeigt hatte, der sich dauernd zu überschlagen schien: einen tanzenden Gockel, dessen feuerrotes Licht inmitten der gelben und blauen und grünen Reklamen immer aufgefallen war. Er warf einen Blick zurück auf den Mann, der neben seinen Kartoffeln hockte, und fragte: »Das ist also die Große Straße?«

    »Ja«, sagte der Mann mißmutig, und sein breiter finsterer Rük- ken bewegte sich nicht.

    Allmählich sammelten sich Leute an der Station; es war nicht ersichtlich, woher sie kamen, sie schienen aus den Hügeln zu

    wachsen, unsichtbar, unhörbar schienen aus dieser Ebene des

    Nichts aufzuerstehen, Gespenster, deren Weg und Ziel nicht zu erkennen war: Gestalten mit Paketen und Säcken, Kartons und Kisten, deren einzige Hoffnung das gelbe Pappeschild mit dem großen grünen H zu sein schien: lautlos tauchten sie auf und reihten sich stumm zu einem dichten Block zusammen, der erst Leben zeigte, als das Kreischen und Klingeln der Bahn zu hören war…